Zu Sankt Martin:

Die vielbesungene Tat des heiligen Sankt Martin, der nun wieder allenthalben die Laternenzüge anführt, war nach allgemeiner Lesart eine Wohltat. Da liegt einer im Schnee und droht zu erfrieren, Sankt Martin zieht die Zügel an, sein Ross steht still beim armen Mann, dann Mantel geteilt und weiter geht der wilde Ritt. Seit Äonen treten den Menschen die Freudentränen ins Gesicht ob dieser unglaublichen Wohltat.

Einmal ganz davon abgesehen, dass es bei Licht besehen den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung erfüllt, den armen Mann mit nichts als einem halben Mantel im Schnee zurückzulassen statt ihn einer beheizten Herberge zuzuführen o.ä. – die Zeiten mögen damals andere gewesen sein – und auch davon abgesehen, dass wir es hier ja nur mit einer Legende zu tun haben, stellt sich mir aber doch wieder die Frage: Müssen wir für erwiesene Wohltätigkeit demütig und dankbar sein oder müssen wir sie nicht vielmehr als eine Selbstverständlichkeit fordern?

Muss man jemanden gleich zu einem Heiligen machen, wenn er nur das Selbstverständliche tut? Wieso geraten die Menschen aus dem Häuschen, wenn einer lediglich nicht höchst unmoralisch handelt? Oder ist diese Euphorie darüber ein Schutzmechanismus, quasi eine affirmative Aufforderung zum Gutsein? „Wenn Du gut bist,  dann bist Du nicht nur nicht schlecht, sondern wir feiern Dich dafür!“ Schließt es sich eigentlich aus, das Selbstverständliche als selbstverständlich zu fordern und es bei Eintreten darüberhinaus als Großtat zu feiern? Ich muss dabei gerade ein bisschen an Rudi Völler denken, der Frankfurter Römer kocht ob der Freude über den Vizeweltmeistertitel: „Ist doch klar, dass ich das gemacht hab, jeder andere an meiner Stelle hätte das doch auch getan.“

Was wäre denn gewesen, wenn Sankt Martin einfach weiter geritten wäre? „Oh, da liegt einer, besser ich hab ihn nicht gesehen, das passt mir gerade gar nicht in den Zeitplan, ich soll ja um sechs zu Hause sein.“ Ich bin sicher, die Legende wäre so nie entstanden, dabei wäre diese Tat – im negativen Sinne – weitaus unerhörter als das Teilen des Mantels und müsste vom moralischen Standpunkt besehen einen Sturm der Entrüstung lostreten. Aber dieser Sturm würde sich nur dann zu einer Legende entwickeln, wenn er dem ganzen eine positive Wendung gegeben hätte.

 

Von Maxim Loick

Folgt mir auf Twitter: @Pausanias oder bei Google+: Maxim Loick