Ein Mähdrescher fuhr vorbei

Heute ist der 27. Juli 2014, soeben war ich mit Polly nochmal zum Pipimachen draußen, es sind gerade, also um 21:45 Uhr an diesem Sonntag, noch angenehme 22ºC, der viele Asphalt der Großstadt Bonn gibt noch Wärme ab. Auf der Niederkasseler Straße fuhr gerade ein riesiger John Deere Mähdrescher an mir vorbei, der sein Mähwerk, wie heute üblich, auf einem kleinen Anhänger hinter sich her zog.

Ich bin ja vom Land, genauer gesagt sogar „vom Hoff“, wie das in westfälischem Deutsch gesagt wird. Mein Vater hat auch Kornfelder bestellt und einmal im Jahr den Lohnunternehmer Terhardt (schreib der sich so? Keine Ahnung, ich kenne den Namen nur gesprochen) beauftragt, sein Korn mit einem seiner drei Claas Mähdrescher zu ernten. Das lief in etwa so ab:

Ab Anfang Juli fuhr mein Vater in seinem weißen W123-Mercedes mit variablen Besetzungen aus 1-6 seiner Kinder auf der Rücksitzbank seine Kornfelder ab, immer den Blick in den Himmel, um abzuschätzen, ob und wie lange es trocken bleiben wird. Dann am Feld anhalten, aussteigen, die Fahrertür offen stehen lassen, mitten auf der Straße. Ein paar Meter ins Feld reingehen. Ein paar Körner abpiddeln und auf eines draufbeißen. Er hat mir das mal gezeigt und auch ein Korn gegeben, das den Ernteanforderungen entspricht: Es muss ganz gelb sein, steinhart und wenn man es durchbeißt, muss es innen ganz weiß sein. Wenn das Korn so weit war, dann wurde der Lohnunternehmer bestellt und ein paar Tage später fuhr ein Claas-Mähdrescher auf unsere Felder. Damals™ waren sie Mähwerke noch nicht so breit, dass sie hinter dem Gerät hergezogen werden mussten, sondern fuhren gleichsam mit offenen Armen über die Straßen von Rhade. Der Mähdrescherfahrer, ein ganz dicker Mann mit einem Gebiss, das unten nur noch einen Zahn hatte, saß auf einer offenen Kommandobrücke und erntete das ganze Korn ab, meist hat mein Vater Gerste angebaut, keine Ahnung warum. Ich durfte das ein oder andere Mal mitfahren auf dem staubigen Mähdrescher, direkt hinter dem Fahrer gab es so eine Art Bullauge, durch das man in die Kornkammer oder wie auch immer das Ding in der Fachsprache heißen mag, gucken konnte. Und da sah man, wie sich über eine Archimedes’sche Schnecke von unten hochgepumpt das gerade ausgedroschene Korn in dieser Kammer sammelte. Wenn dieser Korntank im Mähdrescher voll war, kam mein Vater mit dem Trecker und einem Anhänger, dessen Wände in den Ecken mit Kartoffelsäcken abgedichtet waren, angefahren und der Mähdrescher fuhr seinen Arm aus. Das ganze Korn wurde auf den Anhänger geleitet, es hat mich immer beeindruckt, wie die Fahrer es hinbekommen haben, dass der Trecker so gefahren ist, dass der Anhänger erst hinten und dann nach und nach vorne befüllt wurde und kein Körnchen je daneben gefallen ist. Ich sehe die schwarzen Streifen im Schweiß am Hals meines Vaters vor mir, in dieser Hitze und dem ganzen Staub und seine gute Laune, denn Ernte war was gutes.

In den früheren Jahren, an die ich mich erinnern kann, hat mein Vater das geerntete Korn in der weißen Scheune bei uns auf dem Hof zwischengelagert, keine Ahnung warum. Später hat er dann die Ernte meist direkt zur Genossenschaft nach Lembeck gefahren. An der Genossenschaft fuhr man den Trecker mitsamt vollbeladenem Anhänger auf die große Waage. Ich blieb auf dem Trecker sitzen. Dann wurde das Korn in ein unglaubliches Bodengitter gekippt, von wo es wahrscheinlich irgendeinem Trockungs- und Lagerungsprozess anheim gegeben wurde. Dann wurde der Trecker mitsamt Anhänger und mir nochmal gewogen. Mein Vater, dieser Antiverbrecher, hat immer Wert darauf gelegt, dass ich bei der Abfahrt wieder mitgewogen wurde, nicht mal diese fünfundzwanizg, dreißig Kilo wollte er schuldig bleiben.

Die weiße Scheune steht ja heute noch und meine Schwester lagert darin heute das Heu und das Stroh für die paar Pferde, die heute auf unserem Hof stehen. Die Kornberge, die es in der Scheune mal gab, sind eine starke Erinnerung für mich, als Kind sind wir in kurzen Hosen in diese Kornberge gestiegen. Das warme Korn an meinen Beinen, der Geruch und die Temperatur werden auf ewig eines der Sinnbilder für meine Kindheit bleiben. Wie man das Korn durch die Finger rieseln lassen konnte und wie sich der Geruch, dieser ganze Sommer und dessen ganze Sonne, dadurch verbreiteten.
Meine Mutter erzählt heute manchmal noch die Geschichte, wie sie mal den weißen Mercedes in der Scheune geparkt hat, nachdem sie von einem großen Fest nach Hause gekommen war, in der festen Überzeugung, sie sei durchaus noch fahrtüchtig gewesen. Am nächsten Morgen hat sie die Radkästen aus dem duftigen Korn graben müssen, um den Wagen wieder aus der Scheune zu bekommen. Eine Anekdote.

Nach der Korn-Ernte dauerte es immer ein paar Tage, bis dann das Stroh eingefahren wurde. Mein Vater bestellte dann seinem „Freund Bernd Hülsdünker“, der eine Hochdruckpresse mit Ballenschleuder besaß. Mir kam es immer so vor, als habe Bernd Hülsdünker für meinen Vater das Stroh aus reiner Freundschaft gepresst, aber wahrscheinlich hat er Geld dafür bekommen. Anyway, die Hochdruckpresse mit Ballenschleuder der Marke Welger hatte öfter mal Probleme mit der Bindung, also dem Zusammenbinden der Strohbänder, die die Ballen zusammenhalten sollen, was sich darin äußerte, dass keine Strohballen (ca. 50x40x80 cm) auf den angehängten Strohwagen flogen, sondern weit hinaus stäubende Fontänen trockenen Einstreumaterials den Himmel verdunkelten. Dann musste immer auf irgendeinen Typen gewartet werden, der die Hochdruckpresse der Marke Welger an entscheidender Stelle reparieren konnte oder ein spezifisches Ersatzteil bringen musste oder so. In diesen Wartepausen haben sich die Männer über Trecker unterhalten, da habe ich gelernt, dass Schlüter die besten und vor allem wendigsten Trecker baut und Massey-Ferguson aber so gute Motoren hat. John Deere hat damals noch keine Rolle gespielt. Mein Grundschulklassenkamerad Jan-Bernd Heßling hat hingegen behauptet, dass Fendt so gute Trecker gebaut habe, dass die mit dem Treckerbauen aufhören mussten, weil die zu gut waren und das unfair gegenüber den anderen Treckerherstellern gewesen sei. Ich weiß gar nicht, neulich habe ich einen Fendt gesehen, der sah mir so aus, als sei der nach 1983 gebaut worden, aber das war sicher nur so ein Retro-Nostalgieding für so Romantiker wie mich. Von einem reichen Investor nochmal aufgelegt oder so. Die meisten Bauern in Rhade hatten jedoch International Harvester (IH) Trecker, weil der dörfliche Trecker-Reparateur Rubbert das Schild davon an seiner Werstatt hängen hatte. Keine Ahnung, ob das sowas wie so ein Brauerei-Knebelvertragsdingen war, wie man das von Kneipen kennt, nur für Treckerwerstätten halt.

Zurück zur Strohernte. Irgendwann war so ein Strohwagen voll mit wild durcheinander geschmissenen Strohballen (ca. 50x40x80 cm) und wir Kinder durften ganz oben darauf mit nach Hause fahren, unter den Ästen der höchsten Obstbäume von Winkelmann und Brahmert (schreibt man die so? Ich kenne die Namen nur gesprochen) durch, wo wir uns in vier Metern Höhe beim Tempo von ca. 25 km/h unreife Birnen abrissen und die anbissen, mit nackten Beinen auf den pieksigen Strohballen. Auf der Lembecker Straße musste mein Vater dann links auf unseren Hof abbiegen und keiner der Strohwagen hatte einen funktionierenden Blinker, so dass wir Kinder angehalten waren, den nachfolgenden Kraftfahrzeugen per Handzeichen zu signalisieren, dass die vier Meter hohe Strohwand vor ihnen nun abzubiegen gedachte. Immerhin, es ist nie zu einem Unfall gekommen. Auf unserem eigenen Hof kamen wir an unserem Birnenbaum vorbei, von dem wir uns auch eine unreife Birne pflückten und am Schluss unter den beiden dicken Kastanien. Komisch, letzten Frühling sind beide Kastanien umgefallen und vor ein paar Tagen wurde der Birnenbaum gefällt, weil meine Schwester eine neue Mistplatte für den Pferdemist bauen musste, damit die Umweltschutzauflagen erfüllt sind – kein Bashing der Umweltschutzauflagen, bitte! Ich finde das richtig, dass unser Mist den aktuellen Erkenntnissen und Auflagen entsprechend gesammelt und dann entsorgt wird!

Der Strohwagen wurde vor dem Heuaufzug abgestellt und wir Kinder und viele fleißige Helfer haben dann die zig Strohballen auf den Heuaufzug gelegt, der diese einzeln auf den Balken (also das Obergeschoss des Kuhstalls) befördert hat. Dieser Heubalken war etwas ganz spannendes. Wenn der voll mit Stroh war, hat da oben die Hofkatze Noni ihre Jungen geboren und großgezogen. Wir haben dort auch im Stroh übernachtet. Dieser Balken ist riesig und wenn er voll war, war er sicher. Aber gegen Ende des Winters, wenn das Stroh zur Neige ging, konnte es passieren, dass man vereinzelt auf den Boden des Heubodens stieß, der an manchen Stellen Holzluken besaß, deren Bretter löchrig und morsch waren. Wir hatten eine Heidenangst, da durch zu fallen und auf die Betonplatte der sich im Erdgeschoss befindenden Deele zu landen und dann tot zu sein. Daher haben wir immer darauf geachtet, dass wir nur auf Ballen kletterten und nie den Boden berührten.
Wenn der Strohwagen abgeladen war, blieb immer ein Haufen loses Stroh übrig, denn die Welger Hochdruckpresse mit Ballenschleuder hat auch nach Montage des heilbringenden Ersatzteils immer mal wieder einen einzelnen Ballen zerfetzt und auf den Wagen geworfen. Die ganze Strohernte mag aus so fünf bis acht dieser Strohwagen bestanden haben (meine älteren Geschwister oder die damaligen Rhader Helfer oder meine Mutter mögen das genauer einschätzen können), am Ende lag immer ein riesiger Haufen loses Stroh vor dem Kuhstall, just zu Füßen des Heuaufzugs. Beim letzten Wagen konnten wir immer aus vier Metern Höhe von der Leiterwand des Wagens in den Strohhaufen springen. Unsere nackten Beine waren dann fürchterlich zerstochen vom Stroh, und Staub und Dreck hatten sich in die Wunden gedrückt und wir sprangen dann in unseren Pool (jajaja, ich merke selbst, das klingt zu schön um wahr zu sein und Privilegien und so, aber zum Henker, so war’s!), was zu Folge hatte, dass unsere Arme und Beine mit dick angeschwollenen roten Kratzern übersät waren, die wegen des Chlorwassers höllisch brannten.

Was diesen Haufen losen Strohs angeht, bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ich meine, dass zumindest einmal Bernd Hülsdünker mit der Welger nochmal auf unseren Hof kam und, die Ballenschleuder abmontiert, das Zeug nochmal gepresst hat, wobei mein Vater das Stroh dann mit der Grepe in dieses Aufsammeldingen der Presse schaffen musste. Eine andere Erinnerung geht dahin, dass mein Vater den Strohhaufen mit dem Kleinen Trecker mit Frontlader in den Stall geschafft hat und wir vom Balken in diesen Haufen gesprungen sind. Wir hatten zwei Trecker, beides Massey Ferguson (weil die ja so gute Motoren hatten), den Großen Trecker und den Kleinen Trecker. Der Große Trecker war ein MF 575, der Kleine Trecker ein MF 135 ohne Kabine, aber mit Frontlader und orangenem Stahlbalken als Überrollbügel. Die Fotos, die ich hier im Internet gefunden habe, treffen meines Vaters Geräte schon ganz gut, für den Großen Trecker eigentlich voll, aber nicht für den Kleinen. Der Kleine Trecker war nämlich schon völlig hinüber, es gab keine Bremse mehr, man musste rechtzeitig auskuppeln und ein Gefühl dafür haben, wie weit er im Matsch/auf dem Hof/auf der Wiese dann noch rollen würde. Man konnte ihn nur noch mit einem großen Schraubenschlüssel starten, mit dem man zwei Pole kurzschloss, die dann den Anlasser starteten oder so. Keine Ahnung, was die technischen Zusammenhänge sind, aber ich könnte Euch heute noch zeigen, wo man den dicken Schraubenschlüssel dranhalten muss. Wenn das Ding dann ansprang, Funkenflug am Schraubenschlüssel, kam eine unfassbare Rußwolke aus dem Auspuff (oder vielmehr dem „Treckerturm“, wie ich das als Kind nannte).

Und jetzt hebe ich den Blick von meinem Laptop, in den ich das hier gerade reingetippt habe, es ist dunkel geworden in  Bonn. Ach, menschliches Gehirn, zu was Du fähig bist. Da fährt ein Mähdrescher an mir vorbei und ich hab kurze Hosen an und es ist warm und ich schweife derart ab. Ach, menschliches Gehirn, welche Erinnerungen Du zu speichern in der Lage bist, mit Bildern, Temperaturen und Gerüchen.

Ich gehe mit Polly wieder nach Hause und erst da fällt mir auf, dass meine Eltern mal zwei Charolais-Kälber hatten, eins hieß Friedchen und eins hieß Polly. Die Zucht, für die die beiden vorgesehen waren, kam leider nicht mehr zustande, weil mein Vater krank wurde, aber das schreibe ich vielleicht ein andermal ins Internet.

Von Maxim Loick

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2 Kommentare

  1. Tolle Geschichte, schöne Kindheit offenbar. Mit Treckerfahren und Strohspringen, da hab ich bei den Lindgren-Geschichten immer von geträumt.

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