Wo mache ich mit?

Vor tausenden von Jahren habe ich Abitur gemacht, also kurz davor muss es gewesen sein, dass mir ein oder zwei engagierte Geschichtslehrer*innen was erzählt haben über die Situation in der Weimarer Republik und darüber, wie die Stinknazis an die Macht gekommen sind und sie so lange halten konnten, bis am Ende die ganze Welt brannte. Ich fand das als Schüler irgendwie langweilig, es hatte mit meinem Leben auf dem Bauernhof in Rhade wenig zu tun. Dort, in Rhade, ging es wenig politisch zu. Wir haben uns über die Strohernte gefreut, weil wir auf den Strohwagen mitfahren durften und weil es warm war.

Später habe ich mich aber immer mal wieder zaghaft gefragt, zunächst seltener, später öfter: Wie hätte ich mich damals verhalten, in dieser Nazizeit, oder vielmehr kurz davor? Was hätte ich getan? Wäre ich ein Nazi-Mitläufer geworden oder vielleicht gar ein ideologischer Eiferer? Oder wäre ich von Anfang an in Opposition gegangen? Eine Frage, die mich eigentlich immer beschäftigt hat und die ich bis heute nicht beantworten kann, weil sie rein hypothetisch ist. Ich habe damals nicht gelebt. Ich habe die Verhältnisse nicht am eigenen Leib erfahren. Ich kann diese Frage nicht beantworten, denn ich kann das Wissen aus meinem Geschichtsunterricht nicht ausblenden. Es ist in diesem Moment, da wir in einer Gemengelage leben, die Antworten jetzt, heute, in diesem Moment erfordert, auch nur zweitrangig. Welche Entscheidungen treffen wir heute? Sind wir uns überhaupt dessen bewusst, dass wir an einem Scheideweg stehen?

Gerade vor zwei Tagen hat ein rechtes Dreckssubjekt ein Mordattentat auf Henriette Reker, der OB-Kandidatin für Köln, verübt. Einige Tage zuvor wollten kaum minder verabscheuenswürdige Arschlöcher auf widerwärtigen Pegida-Versammlungen Angela Merkel und Sigmar Gabriel am Galgen hängen sehen. Dass dieser Tage jeden Tag Vertriebenenunterkünfte brennen, ist den Medien kaum noch eine Meldung wert, es ist zur Normalität geworden.

In seinem Blogbeitrag hat Michael Bittner hergeleitet, dass sich weite Teile unserer heutigen Gesellschaft bereits voll auf genau demselben Holzweg befinden wie Deutschland bereits kurz vor 1933. Die Argumentationslinien stehen in einer Linie mit denen von Joseph Goebbels (für die ohne Geschichtsunterricht: Das war der Chef-Hetzer Adolf Hitlers.)

Ich habe mich in all den friedlichen Jahren gefragt: Wäre ich in Zeiten der Nationalsozialisten ein Mitläufer gewesen? Hätte ich sie vielleicht sogar aufgrund meiner persönlichen hypothetischen Lebenssituation unterstützt oder wäre ich vielleicht gar ein glühender Anhänger gewesen? Ich weiß es nicht. Aber wir haben heute, im Jahr 2015, das Glück, dass wir es besser wissen. Dass wir es besser wissen müssen, ist unsere Verpflichtung gegenüber den Millionen Todesopfern, die die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gefordert hat. Wir müssen erkennen, dass die Brunnenvergifter sich genau derselben Mechanismen bedienen wie damals. Damals hatte niemand eine Referenz, niemand oder zumindest nur wenige konnten absehen, wie tief diese Entwicklungen die ganze Welt in den Abgrund reißen würden.

Heute stehen wir da und kennen die Geschichte. Heute sind wir verpflichtet, es besser zu wissen. Heute wissen wir, dass wir diesen Tendenzen früh begegnen müssen. Das tun wir, das tun vornehmlich diejenigen, die sich nicht zu schade sind, sich für eine Haltung zu entscheiden. Das tun auf kontinuierliche Weise vor allem die, die in den demokratischen Parteien organisiert sind. Es sind in vorderster Front Jusos, Sozis, Linke und Grüne, die neben kirchlichen und sozialen Verbänden auf dem Marktplatz stehen, um hier in Bonn die Spacken von Bogida nach zwei Versuchen derart in die Schranken weisen, dass die sich hier nicht wieder haben blicken lassen.

Und dennoch werden diejenigen, die sich in den demokratischen Parteien engagieren, im besten Fall bestaunt, im Normalfall gemieden, im schlechtesten Fall wie Unzeug behandelt. Das ist vor dem Hintergrund des Wissens, das wir alle über die finsterste Zeit der Menschheit haben, zutiefst alarmierend. Wie viele Konjunktivkonstruktionen sind geschrieben worden über die Zivilgesellschaft der Weimarer Republik und der darauf folgenden Nazi-Herrschaft? Wann hätten die aus unseren Augen normalen menschlichen Regulative greifen müssen?

Hätte hätte Fahrradkette, was die Geschichte angeht, die ändert sich nicht mehr. Aber heute stehen da welche mit offener Nazi-Rhetorik, mit offener Ablehnung gegenüber demokratischen Mechanismen, die einmalig in der Geschichte der Menschheit 70 Jahre Frieden in Europa gesichert haben, und wir als Zivilgesellschaft müssen in der Lage sein, das zu erkennen und dem entgegenzutreten, denn wir kennen die Geschichte.

(Ey, Loick, Nazivergleich, geht’s nicht eine Etage drunter?) Nein! Ich bin in meiner schulischen Laufbahn darüber informiert worden, wie subversiv ein menschenverachtendes Regime zur Macht gelangen konnte und ich möchte, dass meine Enkel, sollte es zum Schlimmsten kommen, sagen können: Mein Opa hat sich dem von Anfang an entgegengestellt, denn wir begeben uns gerade auf genau diesen Weg. Der Anfang ist jetzt.

Aber noch mehr wünsche ich mir, dass meine Enkel keinen Gedanken an die Spinner von Pegida und AfD verschwenden müssen, weil hoffentlich in ein paar Jahren niemand mehr darüber sprechen muss. Dass die Zivilgesellschaft und die Politik gemeinsam eng genug zusammenstehen, um eine erneute Eskalation dieses Ausmaßes zu verhindern.

Aber damit das Wirklichkeit wird, muss in der Gesellschaft viel passieren. Es darf nicht länger Konsens bleiben, dass Politiker*innen der demokratischen Parteien per se als korrupt wahrgenommen werden. Es darf nicht länger Konsens bleiben, dass Parteien als Hort des Bösen, der Vercheckung, des gesellschaftlichen Ausverkaufs wahrgenommen werden. Die demokratischen Parteien sind dies alles nicht. Es mag gern genommene einzelne Fälle geben, für meine Partei nehme ich in Anspruch: Die allermeisten, die sich mit mir engagieren, treiben Anstand, der Wille zur Gestaltung zum Besten für alle und der Wille zur Verbesserung der Verhältnisse an.

(Kaum habe ich das hingeschrieben, werde ich ängstlich: Traust Du Dich wirklich, das zu sagen, öffentlich, im Internet, lesbar für alle, auch für die, die eine Minute nach dem Klick auf „publish“ über Dich herfallen werden? Wer schreit als erstes „Sarrazin!“? Wer als erstes „Wer hat uns verraten?“ Wird mein VDS-Count dem Ansturm standhalten oder muss Google für mich mitzählen?)

Ich bleibe dabei. Die Mehrheit der parteipolitisch Engagierten und Organisierten sind von hehren Idealen getrieben, so wie ich. Fallt über mich her, nennt mich einen Naivling, lacht mich aus oder verwehrt mir jede politische Karriere: Das wird immer mein politischer Antrieb bleiben, so wie von hunderten Sozis, die ich kennengelernt habe. Das sind die, die neben den Aufgebrachten um die Kloschüssel stehen, das sind die, die genau wie die anderen sehen, dass da unten in der Kloschüssel der Schlüssel liegt, der dort gerade hineingefallen ist. Das sind die, die nicht nur rufen: Guck! Da liegt der Schlüssel, ganz unten! Da liegt er! Das sind die, die hingehen und hineingreifen in die Kloschüssel und den verdammten Schlüssel da raus holen. Das sind die, von denen sich alle angewidert abwenden, weil ihre Hände komisch riechen. Aber das sind die, die für Euch den shice Schlüssel da rausgeholt haben.

Da steht ein Ergebnis, Asylverschärfungen, Shice-SPD, Mann! Ihr hättet einfach NEIN sagen müssen! Wenn es so einfach wäre, wären alle Probleme gelöst. Die Wahrheit ist aber: wenn eine Bevölkerung 25% SPD wählt und 42% Union, dann stehen in so einem Asyl-Kompromiss auch 42% Union und nur 25% SPD. Und wenn Frau Merkel plötzlich das erste Mal in ihrer Kanzlerschaft einen Kurs erkennen lässt, der auch nur im entferntesten sowas wie Haltung erkennen lässt – und ihre bis dato fantastischen Umfragewerte stante pede in sich zusammenbrechen – dann frage ich mich, ich ganz persönlich: Haben wir ein Problem, Zivilgesellschaft? Und liegt dieses Problem wirklich in den Parteien? What is your drive, Deutschland?

Von Maxim Loick

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3 Kommentare

  1. Zum Thema Asylverschärfungen und SPD: Da machst du es dir ein wenig einfach. Es gibt eine linke Mehrheit in Deutschland, aber der SPD ist die Die Linke halt zu unfein. Stattdessen koaliert die SPD lieber mit der massiv von brauner Soße durchwanderten CDU/CSU.

    Es mag sein, dass du in deinem Parteifreundeskreis viele ganz tolle aufrechte Sozen kennst, aber die Ergebnisse zeigen, dass deine singuläre empirische Wahrnehmung wenig mit der merhheitlichen Realität in dieser Partei zu tun hat.

    Marco Bülow hat in seinem Blogpost „Vorwärts und vergessen“* die Tage gut verdeutlicht, warum diese SPD unwählbar ist: Weil sie von machtgeilen Typen zerfressen ist, die nicht bereit sind, eine linke Zukunft zu denken und dann umzusetzen. Weil sie lieber mit der schwarz-braunen CDU/CSU koalieren, statt mit linker Macht eine bessere Realität umzusetzen.

    Den von dir gelobten Strassenkampf gegen rechts in allen Ehren, aber Politik ist eben mehr als einerseits die Parteibasis gegen Braun auf die Strasse zu schicken und andererseits eine neoliberale Shice-Politik machen, die die Ressentiments füttert. Die SPD ist von der Macht korrumpiert und wird nur durch einen glaubhaften personellen Neustart jenseits der Generation Gabriel wieder ansatzweise wählbar werden.

    peace out

    * http://blog.marco-buelow.de/2015/10/16/vorwarts-und-vergessen-vorratsdatenspeicherung-mitgliederbegehren-und-innerparteiliche-demokratie-in-der-spd/

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