„Selber denken“, wann ist aus Dir eigentlich „traue nichts und niemandem mehr“ geworden?

Neulich schrob @_drsarkozy diesen Tweet hier:

Zuerst wollte ich ihn, ganz meiner Gewohnheit folgend, einfach so faven und retweeten, schließlich hat man mir vor über tausend Jahren, als ich noch zur Schule ging, in nahezu allen Fächern sowas gesagt. Sei kritisch, glaub nicht der Bildzeitung, denke selbst. Doch plötzlich dachte ich: Das ist wahrscheinlich genau das, was Pegidist*innen und AfD-Wähler*innen zu tun glauben, dass sie glauben, sie hinterfragten kritisch und stellten einfach nur mal die unangenehmen Fragen. Dass das, was sie da tun, gar kein kritisches Hinterfragen ist, weil sie nämlich gar keine Argumente abwägen, sondern pauschal alles scheiße finden, ist ihnen womöglich nicht einmal bewusst.

Das ist womöglich genau der Grund, warum die Volksparteien mehr und mehr an Rückhalt verlieren. Was früher™ als kritische Würdigung medialer Berichterstattung gemeint war, scheint mir in ein völliges Misstrauen umgeschlagen zu sein. Egal, was die Volksparteien sagen, by default wird das für Verrat, Vetternwirtschaft, Selbstbereicherung und Betrug gehalten. Das „nicht mehr hinhören“ und das kategorische Abwerten und Ablehnen wird als „ich bilde mir kritisch meine eigene Meinung“ missverstanden.

Heute hat meine Partei auf dem Konvent in Wolfsburg einen Kompromiss zu CETA beschlossen (PDF) und meine TL geht steil, „Wer hat uns verraten?“ allenthalben, wieder einmal. Dabei scheinen mir einige Punkte in diesem Kompromiss ganz ordentlich:

  • Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Beratungen über CETA vor Beschlussfassung im europäischen und in den nationalen Parlamenten (S. 3 und nochmal auf S. 4)
  • öffentlich-rechtlicher Handelsgerichtshof statt privater Schiedsgerichte (S. 4)
  • Sicherung der Entscheidungshoheit der Parlamente „in vollem Umfang“ (S. 5)
  • weitreichende Schutzregelungen für Bereiche wie Wasserversorgung, Bildung, Gesundheit oder soziale Dienstleistungen (S. 6)
  • Diskussion des Abkommens im Bundestag vor Beratung und Entscheidung im EU-Ministerrat (S. 8)
  • der Wille, die weiteren kritische Punkte im weiteren Prozess zu gestalten (S. 7)

Ich finde meine Partei gut, weil sie sich bis in Detail mit diesem Abkommen auseinandersetzt und um jedes Komma streitet, immer mit dem Willen, ein positives Ergebnis zu erzielen, das uns alle voranbringt – auch dann, wenn 300.000 auf der Straße eine pauschale Ablehnung fordern. Die SPD ist die einzige Partei, die sich eben nicht holzschnittartig auf ein „ganz oder gar nicht“ beschränkt, sondern den Scheißtext von A bis Z durchackert und an jeder Scheißstelle konstruktiv den Stift ansetzt und Anpassungen einfordert. Ich finde gut, dass Matthias Miersch, immerhin Sprecher der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion, zur konstruktiven weiteren Mitarbeit aufruft. Ich finde, die SPD tut hier genau das, was für TTIP immer wieder eingefordert wurde: Ein Abkommen verhandeln, politisch zu bearbeiten, für Verbesserungen zu streiten. Ich finde richtig gut, dass in meiner Partei das „Denken Sie selbst! Bewahren Sie Ruhe und sich stets Ihre Skepsis.“ in einer Art und Weise ernstgenommen wird, wie ich es damals™, vor tausend Jahren in der Schule, auch verstanden habe. Diese Retro-Sozis, ey!

Von Maxim Loick

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4 Kommentare

  1. Das, was die SPD beschlossen hat, ist leider Augenwischerei. Zu den einzelnen Punkten:
    -Einbeziehung der Zivilgesellschaft heißt halt nur, dass man drüber redet in nicht näher definierten Gruppen, vielleicht ein Internetkommentarforum aufmacht. Es steht nirgends etwas, dass das Ergebnis irgendwie bindend sein soll. Es riecht eher nach „nett dass wir drüber geredet haben“.
    -Schiedsgerichte: Ob die Schiedsgerichte öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich organisiert sind, spielt keine wirkliche Rolle, weil die Schiedsrichter in beiden Fällen Anwälte sind, die mal als Anwalt tätig sind oder mal für einzelne Fälle von den Parteien als Richter berufen werden. Das ist KEIN stehendes Gericht mit fest angestellten Richtern. Es hört sich nur so an.
    -Entscheidungshoheit der Parlamente: Die haben sie sowieso (bzw. der Beschluss der SPD kann daran nichts ändern, wenn die Kommission CETA doch nicht als gemischtes Abkommen sieht) und das ist auch einigermaßen sinnlos, wenn die Fraktion im BT sich an den Beschluss des Konvents (siehe VDS) und die Entscheidung der Bundesregierung gebunden fühlt.
    -Schutzregelungen: Das Abkommen selbst wird nicht neu verhandelt, es gibt lediglich „Klarstellungen“ die verhandelt werden sollen. Die sind aber nicht bindend. Bindend ist nur der Vertragstext.
    -Diskussion im Bundestag: Kann man in der Pfeife rauchen, s.o.
    -Gestaltung im kritischen Prozess: Das Abkommen wird nicht mehr angefasst. Es steht. Da gibt es keine kritischen Punkte mehr, die man gestalten könnte.

    Da ist es auch toll, dass man darüber diskutiert hat, wenn man sich am Ende doch vom Vorstand verarschen lässt, weil Gabriel vor dem Gesichtsverlust bewahrt werden muss.

  2. Das Abkommen war eigentlich vor drei Jahren schon ausverhandelt. Ist trotzdem nochmal geändert worden. Ich verweise mal auf unsere Generalsekretärin:

    https://twitter.com/katarinabarley/status/777869261272408064

    und hier:

    https://twitter.com/katarinabarley/status/777973274676527104

    Zu den einzelnen Punkten, die Du genannt hast, steht ziemlich genau drin, wie das aussehen soll, etwa dass die Richter in einem transparenten Verfahren berufen werden müssen, dass die Klarstellungen in einer rechtlich bindenden Form zugefügt werden müssen und auch der parlamentarische
    Beratungs- und Ratifizierungsprozess ist klar beschrieben.

  3. Das steht doch in dem Papier selbst drin: „Die Verhandlungen zwischen der EU-Kommission und der kanadischen Regierung
    sind zwar abgeschlossen. “
    Wenn man da was ändern will, müsste man es neu verhandeln. Und zwar nicht zwischen dem SPD-Parteikonvent, sondern zwischen der EU-Kommission und Kanada. Beides Beteiligte auf die der SPD-Konvent nur sehr begrenzt (Euphemismus!) Einfluss hat. Da kann man sich halt etwas wünschen, aber ob das auch von der EU so gesehen wird und ob Kanada dem zustimmt, steht in den Sternen.
    Ich habe sogar in dem Abkommen gelesen, was da drin steht und das beseitigt meine Bedenken nicht. Es sind halt Anwälte, die auf internationalen Handel spezialisiert sind, die berufen werden. Andere erfüllen die Voraussetzungen gar nicht.
    Das ist halt ein typisches wohlklingendes politisches Papier um die Gegner zu besänftigen. Aber in der Sache wird es keine Auswirkungen auf das Abkommen haben.

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