Faktenanalyse der Rede Peer Steinbrücks vom 14.04.2013

Ganz früh war es, noch dunkel, und die Kinder und die Frau schliefen noch, als ich das Haus verließ. Zwei Abende zuvor hatte ich mich noch darüber echauffiert, dass gemeinhin breit und feixend über den aktuellen Slogan der SPD abgelästert wird, dass dieser Slogan irgendwann bereits von irgendeinem Saftladen schon mal verwendet wurde. „Ist nicht schön, verändert aber das Land nicht“, wollte ich sagen, „wohingegen das konsequente Demontieren der Energiewende durch die Union und die FDP kaum diskutiert wird und das Land viel tiefer prägen wird“, wollte ich sagen, aber ich hatte das an dem Abend irgendwie nicht so raus bekommen. Mit Anspannung stieg ich in den Zug um 6:11 ab Siegburg.

Meine Frau, erfahren wie sie ist, hatte mir gesagt: „Lad Dir was runter für die Zugfahrt, denn das Netz wird unterwegs brüchig sein“, und so hatte ich mir Stéphane Hessels „Empört Euch“ als e-Book auf mein mobiles Endgerät geladen. Damit brachte ich mich weiter in Stimmung für den Bundesparteitag der SPD 2013. Auf diesem Parteitag sollte das Regierungsprogramm beschlossen werden, viel wichtiger erschien aber, wie Peer Steinbrück sich dort mit seiner Rede präsentieren würde. Anspannung.

In Augsburg angekommen, musste ich vom Hauptbahnhof mit einer Regionalbahn noch zwei Stationen weiter fahren, um zum Gelände des Parteitages zu gelangen. In diesem Zug saßen zwei weitere Sozis, Delegierte, die sich vorab über den bevorstehenden Parteitag unterhielten. Auch die beiden machten einen angespannten Eindruck, sie ließen die „Pannen“ des Kanzlerkandidaten noch einmal Revue passieren und kamen zu einem ähnlichen Schluss wie ich zwei Tage zuvor: Dem Wahlkampf sicherlich abträgliche Banalitäten, die erheblich heißer diskutiert würden als ihnen zustünde. Die beiden redeten über eine Rede Steinbrücks, die sie beide gehört hatten (ich jedoch nicht) und bekannten, dass sie ihn in dieser Rede sehr gut gefunden hatten. Anspannung.

Auf dem Parteitagsgelände angekommen, nahm ich meinen Platz bei den Genossen des Newsdesks ein, freundliche junge Leute, die für’s Willy-Brandt-Haus die Online-Berichterstattung besorgen. Sie hatten mich eingeladen, als Blogger vom Parteitag zu berichten.

Zur Eröffnung hielt Sigmar Gabriel eine vergleichsweise lange Rede, die mir aber dennoch gut gefallen hat. Er hat darin alle die Themen genannt, die mir wichtig sind und die mich überzeugt für die SPD den Kopf hinhalten lassen. Er hat diese Themen wunderbar mit dem richtigen Schuss Emotion gebracht, der Saal wurde warm. Aber immer noch Anspannung bei den Genossen. Waten auf Peer, die Timeline nestelt an den Wortspielen.

Christian Ude tritt ans Pult, ein Heimspiel für ihn. Für mich ungewohnt zu hören, dass jemand mit bayrischem Zungenschlag sozialdemokratische Standpunkte vertritt. Christian Ude entlockt dem Plenum sogar den einen oder anderen Jauchzer, guter Mann, gute Inhalte launig, aber ernst in der Sache vorgetragen.

Ich muss natürlich auch das Grußwort von Claudia Roth erwähnen und ich tue das mit Freuden! Noch nie hat jemand von den Grünen auf einem Bundesparteitag der SPD gesprochen (so hieß es zumindest im weiten Rund). Ich war geschmeichelt. Claudia hat uns Sozis so angekuschelt, das tat mir richtig gut. Sie hat in ihrer Rede in keiner Sekunde einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass rot und grün gemeinsam in diesen Wahlkampf ziehen werden und dass wir ihr allerliebster Koalitionspartner wären. Das tat wirklich gut. Da hat jemand den Blick behalten dafür, dass wir für richtig richtig gute Sachen kämpfen werden und sie hat sich nicht kirre machen lassen von Gemäkel an Slogans und von Gemäkel an Nebensätzen von Peer. Sie hat den Blick auf das Wesentliche, nämlich unsere Inhalte, gerichtet und gesehen, dass nämlich wir, rot und grün!, die besten politischen Inhalte und Konzepte haben.

Dann kam Peer. Anspannung. Ich schrieb einen Tweet, der lustig sein sollte, mir aber lahm geriet; willfährig wurde dieser Tweet zerfleischt, nur allzu vorhersehbar und blutdürstend wurden die Kommentare dazu retweetet. Peer fängt an. Er macht auf mich einen abgekämpften Eindruck, sieht etwas fahl aus. Nach den emotionalen Reden von Sigmar, Christian und Claudia Roth fängt er leise an. Er sagt „Ich fange mal hinten an: Ich will Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.“ Ein etwas matter Anfangsgag, finde ich. Matt. Ich bin angespannt. Der Kandidat ist matt! Peer redet weiter, erzählt unaufgeregt, bringt Punkte vor, die ich alle schon lange lange unterschrieben habe. Wird sicher. Ich bin immer noch angespannt, er muss uns schließlich heute begeistern, er darf nicht blutleer sein, heute muss die Wende gelingen. Peer kommt zu seinem Thema: Finanzmärke. Die Timeline geht steil: der Millionen-Peer, unglaubwürdig als Bändiger der Märkte! Willfähriger Vollstrecker des Großkapitals! Ich höre ihm zu. Er zeigt Kompetenz. Ich finde das gut, was er sagt. Ich finde das auch überzeugend, was er sagt. Ich nehme ihm ab, dass er der ist, der diesen ganzen Shice in diesen unübersichtlichen Märkten durchschaut. Dass er der ist, der weiß, an welchen Stellen man ansetzen muss, um derer Herr zu werden, die sich seit Jahren wie die Axt im Walde benehmen. Ich höre ihm zu und ich nehme ihm ab, dass er wirklich die Nase davon voll hat, dass Volkswirtschaften erpressbar geworden sind. Bilder von 2008 kommen mir in den Sinn, wie er mit Frau Merkel irgendwelche Maßnahmen verkünden muss, die ihm so offensichtlich nicht schmecken – damals, 2008 – dass ich damals, 2008, bereits dachte: Oha, der ist persönlich angesickt von diesen verschissenen Bankern, die uns unsere schöne Wirtschaft hier kaputtspekulieren. Der war damals glaube ich echt sauer. Und jetzt, 2013, ist er nicht mehr sauer, sondern wirkt auf mich entschlossen, der will der Politik die Gewalt zurückholen. Er will den Banken die Gewalt nehmen und sie der Politik und damit denen, die diese Politik wählen, zurückgeben. Und er macht auf mich den Eindruck, dass er weiß, wie das geht und dass er das tun wird. Er spricht über Steuerhinterzieher, von Leuten, die uns um Milliarden betrügen, von Leuten, die uns ausrauben (mein Wort, nicht seins). Er sagt, dass man nicht von Steueroasen, sondern von Gerechtigkeitswüsten sprechen muss. Er ist böse auf Steuerhinterzieher und ich bin es auch. Ich erinnere mich, wie er mit der Kavallerie in die Schweiz einreiten wollte, damals, und wie ich das toll fand, wie ich gejubelt habe, dass da einer dieses ganze viele Geld, das uns Steuerzahlern einfach gestohlen wurde, wieder zurückholen wollte. Und er macht in seiner Rede heute deutlich, dass er das immer noch will. Und dass er jetzt einen Plan dazu hat. Ich bin völlig begeistert, während die Timeline weiter herumätzt und über Pinot Grigio und Eierlikör geifert.

Der Saal hört zu. Keine Jauchzer wie bei Christian. Kein Applaus (zumindest in meiner Erinnerung), Zuhören. Da steht Peer und spricht von Gerechtigkeit. Und er hat einen Plan. Er hat im Herbst letzten Jahres ein Papier vorgestellt, in dem er seinen Plan aufgeschrieben hat und alle haben den Plan gelesen. Dieser Plan ist so gut, dass sogar die Kanzlerin sich aus daraus bedient. Ich bin nicht mehr angespannt. Ich bin sauer. Zusammen mit Peer bin ich sauer, sauer auf die Regierung, die seit vier Jahren keinen Henkel an nichts kriegt, die aber trotzdem als die Bewahrerin der europäischen Einheit dasteht. Die keinen Plan hat, wie sie die Finanzmärkte wieder unter Kontrolle kriegt, die keinen Plan hat, wie wir das uns gestohlene Geld wieder zurückbekommen, die einen Finanzminister eingesetzt hat, der Abkommen mit der Schweiz treffen will, nach dem diese Verbrecher sich Anonymität und Immunität erkaufen können mit einem Hunderttausendstel des geklauten Geldes. Da bin ich sauer und Peer ist sauer, wir sind sauer und die Delegierten sind auch sauer. Wie die Merkel die Finanztransaktionssteuer erst abgelehnt hat und uns dann doch zustimmen musste, wie wir ihr die ins Papier diktiert haben. Und wie der Rösler mit seiner Politik auf Bestellung das wieder torpediert, das macht mich sauer. Und Peer spricht von Gerechtigkeit und ich glaube ihm, denn ich will auch Gerechtigkeit und ich muss an Gisela denken, die wir im Ortsverein erst kürzlich für 50 Jahre Mitgliedschaft in der SPD geehrt haben. Gisela hat gesagt: „Ich bin damals eingetreten, weil ich Gerechtigkeit wollte. Ich wollte, dass alle die gleichen Möglichkeiten bekommen und dafür trete ich noch heute ein.“ Und ich weiß das, dass sie das noch heute macht, schließlich debattieren wir einmal im Monat an unserem Stammtisch und sie diskutiert mit harten Bandagen.

Gerechtigkeit! Peer ist nun leidenschaftlich. Es ist ungerecht, dass jemand weniger verdient, nur weil sie eine Frau ist! Es ist ungerecht, dass nicht alle den gleichen Zugang zu Bildung bekommen! Es ist ungerecht, dass nicht alle den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen! Es ist shice, wenn Banken nicht mehr den produzierenden Mittelstand stützen! Es ist shice, wenn die Banken, die das noch tun, keine Anerkennung dafür erhalten! Es ist shice, wenn dreivier alles haben und alle anderen nichts! Es ist shice, wenn Geld aufgetürmt wird statt seiner Bestimmung zugeführt zu werden, es ist shice, wenn Geld nicht investiert wird! Ich bin auch leidenschaftlich und die Delegierten sind leidenschaftlich und die Timeline ist mir egal. Ich höre Peer zu und ich gehe mit. Er nimmt Frau Merkel ins Kreuzverhör und sagt alle diese Dinge, die ich die ganzen letzten Monate von ihm endlich endlich gesagt haben wollte, die Uli Kelber schon gesagt hat, die Sigmar Gabriel gesagt hat und Peer schüttelt die Fäuste und ich bin leidenschaftlich dabei.

„Das ist sein Thema“, schreibe ich in die Timeline und meine „Ja, verdammt, verdammt, verdammt, so muss man an diese Dinge rangehen, genau so!“

Am Ende des Parteitags sprachen einige davon, dass es ja wohl völlig daneben gewesen sei, dass Peer seine Redezeit überzogen hat, weil damit viel weniger Zeit für die Debatten über die Änderungsanträge geblieben sei.

Das Regierungsprogramm wurde einstimmig beschlossen. „SED!“ ätzt die Timeline, aber die Genossen, sogar die besonders kritischen, scheinen zufrieden, einer sagt, das wäre das beste Regierungsprogramm der letzten zwanzig Jahre. Es stehen Sachen darin, die die CDU möglicherweise im Jahr 2020 in ihr Programm aufnehmen will. Es stehen Sachen darin, die Gerechtigkeit schaffen wollen. Es stehen große Sachen darin. Die Timeline ätzt: „Glaube nichts, was ein Politiker vor einer Wahl sagt!“ Ich antworte: Wenn jemand vor einer Wahl so etwas nicht sagt, ist es viel schlimmer, denn man kann ihn danach nicht daran messen.

Vielleicht war das immer das Problem der SPD, dass sie immer messbare Politik gemacht hat und immer noch macht.

Und jetzt haut mir auf’n Kopp, nennt mich naiv und realitätsfern und vielleicht schäme ich mich in zwei Jahren, wenn ich den ganzen Politikbetrieb dann schon länger kenne, für meine kindliche Emotion hier – aber vielleicht grabe ich diesen Text dann in zwanzig Jahren noch mal aus, wenn ich vielleicht irgendwo satt sitze und mein Glaube an die Politik und die Demokratie längst zu einer Hülse geworden ist, und kann mich dann an mir selbst messen.

Von Maxim Loick

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