Melodram

Wir schreiben das Jahr 2035. Alle Sozialdemokraten haben eine neue Heimat gefunden, bei den Grünen, in der Linkspartei, bei den Piraten und sogar in der FDP.

Gestern der Anruf: „Heraus, Genosse! Du und ich!“

Ich stehe nun also in diesem verlassenen alten Social Network StudiVZ, es tropft auf den nackten Betonboden, fahles Licht fällt durch die Fenstergitter, die schon lange kein Glas mehr tragen. In einem der Schattengebilde da hinten, wo der alte Koffer liegt, meine ich die Züge von Angela Merkel ausmachen zu können. Was tue ich hier? Wem will ich noch etwas beweisen? Es ist längst eine persönliche Sache geworden, nur noch der Fraktionsvorsitzende und ich. Fraktion, was für ein Wort! In der ganzen Partei sind nur noch er und ich übriggeblieben. Ich stehe mitten im alten StudiVZ, ungedeckt, soll er mich doch treffen aus seinem ewigen Hinterhalt, was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Ich will nur noch, dass es vorbei ist.

Es ist still. Volvic tropft von einem der Stahlträger auf die immer gleiche Stelle, tupp, tupp, tupp, tupp… Dann ein Sirren. Mein Device sagt mir, dass er jetzt da ist. Ich kann ihn nicht sehen. Er ruft: „Ich habe mich erklärt, vor über sechsundzwanzig Jahren habe ich mich erklärt! Ich bin dir nichts schuldig!“ Ich huste, was aber ein Lachen sein sollte. „Komm endlich raus“, rufe ich. „Komm hier her, guck mich an, und sag mir, wie du dich erklärt hast!“

Plötzlich werden meine Knie weich. Vielleicht habe ich das alles über all die Jahre nur nicht hören wollen? Was, wenn ich Unrecht gehabt haben sollte? Wenn ich seine Erklärung einfach nur nicht verstanden habe? „Erklär dich nochmal!“ rufe ich.

Das Sirren. Sein Rollstuhl erscheint direkt in den schmierigen Lichtstrahlen neben dem alten Koffer. Da sitzt er, gebrochen, noch kaputter als ich selbst. Er sagt: „Weißt du, was in diesem Koffer ist?“

Er sagt: „Darin ist, was wir zusammen mal für die Freiheit gehalten haben. Was wir für die Freiheit gehalten haben im Jahr, in dem dein Sohn geboren wurde. Ich habe getan, was ich für notwendig hielt, um deinem Sohn diese Freiheit wahren zu können. Du beschimpfst mich seit ich den Fraktionsvorsitz übernahm.“ Ich gucke ihn schräg an. Ich rufe: „Es wäre an vielen Stellen Zeit gewesen, anderen die Deutungshoheit zu überlassen!“

„Du Narr!“ schallt es durch die Halle zurück, „wir sind gemeinsam daran zugrunde gegangen, dass wir, jeder für sich, geglaubt haben, wir würden die Deutungshoheit kennen! Ich bin alt. Ich sterbe. Ich überlasse sie dir!“ Er zieht umständlich etwas aus seiner Gesäßtasche, er muss sich mühen im seinem Rollstuhl, er ächzt und dann hat er ein Dokument in der Hand. Ich will einen Schritt auf ihn zugehen, aber plötzlich hat er einen kleinen Gegenstand in der Hand, den ich nicht genau erkennen kann, länglich, schwarz, ich stutze. Dann sehe ich, es ist ein Füllfederhalter. Er kritzelt auf das Dokument und wirft es auf den Betonboden. „Da hast du es!“ sagt er, erstaunlich ruhig. Er blickt kurz auf das Dokument, dann dreht sich sein Rollstuhl um und er verschwindet mit diesem Sirren in den toten Weiten von StudiVZ.

Ich stehe da und weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Vorsichtig nähere ich mich dem Dokument, das dort neben dem Koffer liegt. Niemand kommt, niemand ist da. Ich hebe das Dokument auf, es trägt ein altes Zeichen, einen Adler. Der Koffer, sehe ich, ist nicht richtig verschlossen. Ich hebe den Deckel und er ist voll mit Broschüren. Ich nehme eine in die Hand, auf der ersten Seite steht „Beschlossen am 28. Oktober 2007.“ Ich blicke auf das Dokument in meiner anderen Hand. Dort steht: „Hiermit erkläre ich meinen Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, SPD.“ Ich sehe sein Gekitzel. Dort steht in zittriger Hand sein Name.

Als @frau_ratte mich abholt, frage ich sie, wie es den Kindern geht. Sie antwortet mir nicht. Sie sieht mich an wie an jenem Tag, an dem sie die Koffer aus unserer Wohnung trug.

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Kategorisiert in SPD, Unsinn

Von Maxim Loick

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