California Dreamin‘ auf nordrheinwestfälisch

Heute morgen, also am Montag, dem 2. Januar 2012, war’s schlimm. Erster Tag zurück in den Alltag nach den Weihnachtsferien, verdrehte Kinder, Regen.

Timeline checken, alle anderen Twitterer sind noch zu Hause, haben ihre Ferien noch etwas verlängert. Mit nassen Füßen betrete ich das Büro. Irgendjemand hat mir diesen wunderbaren Ausruf von Boris Becker in die Auslage retweetet: „Vergangenheit ist OVER !!!

Und plötzlich höre ich in meinem Kopf „Advantage Becker“, Schiedsrichterstimme, herausgerutschte und mühsam zurückgeholte Jubler aus dem Publikum am Center Court von Wimbledon.

Und dann ist die Sonne da, warm, wir laufen in kurzen Hosen und barfuß in Tennisschuhen herum. Mein Vater lebt noch, er hat gerade seinen von ihm mit seinen Tennisfreunden gebauten Tennisplatz gewässert, das kleine Turnier kann losgehen. Im Fernsehen spielt Boris Becker und revolutioniert das deutsche Tennis. Ein Freund aus dem Tennisverein (in dem mein Vater und wir Kinder Mitglied sind) arbeitet irgendwas in der Industrie im Ruhrgebiet und hat einen selbstgeschweißten Stahlgrill angekarrt, ein ganzes Schwein wird sich daran drehen. Viele Freunde, Verwandte und Bekannte der Verwandten kommen auf unseren Hof, Sommerwetter at its best. Wir haben alle Gäste in Gruppen eingeteilt und spielen ein Turnier, immer Doppel, immer nur einen Satz (weil wir nur einen Tennisplatz haben und wir sonst nicht alle durchkämen). Ich bin irgendwas um die neun oder zehn Jahre alt. Unser Hof ist groß, der Tennisplatz liegt rechts von dem Weg, der von der Hauptstraße zu unserem Hof hinunter führt. Auf dem Hof angekommen, steht links die weiße Scheune, in der mein Vater seine landwirtschaftlichen Geräte unterbringt, die er aber für das Fest beiseite geräumt hat. Der monströse Grill steht vor dieser Scheune, falls es Regen geben sollte und man schnell in die Scheune umziehen muss. Aber es regnet kein bisschen, es ist Kaiserwetter. Meine Großmutter lebt auch noch, sie hat ihren Butterkuchen gebacken, dessen Rezept sie Jahre später kurz vor ihrem Ableben exklusiv meiner ältesten Schwester weitergegeben hat. Die aus Düsseldorf und Umgebung angereisten Gäste lobpreisen diesen Kuchen hymnisch. Alle tragen weiße Tennissachen und alle sind fröhlich. Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, der derjenige ist, über den die ganzen Düsseldorfer zu uns gefunden haben, ist der lustigste. Mein Vater spielt gerade sein erstes Match, niemand hat so einen harten Aufschlag wie er (außer Boris Becker im Fernsehen, der hat einen so harten Aufschlag wie noch nie jemand vor ihm. So an die 200 Sachen!)

Ich bin mir gerade nicht sicher, ob der alte Spieker noch vollständig steht oder ob der Brand schon war, dem die Hälfte des Gebäudes irgendwann zum Opfer gefallen ist. In diesem Feuer hatte ein Pferd derartig schwere Verbrennungen und Vergiftungen davongetragen, dass es notgeschlachtet werden musste.

Der ganze Hof steht voller Autos mit Recklinghäuser, Düsseldorfer und Borkener Kennzeichen, mein Onkel (der Bruder meiner Mutter) zapft das erste Bier, natürlich wurde auf einer Feier wie dieser eine Theke von Finke, der lokalen Kneipe gleich hinter den Bahnschienen, herbeigeschafft und es wurde Bier vom Fass getrunken. Ich trinke nur Mineralwasser, weil ich noch ein Kind bin, vielleicht darf meine älteste Schwester schon mal etwas Sekt probieren. Alle Gäste bleiben über Nacht, sie haben sich in allen irgendwie verfügbaren Ecken unseres Hauses eingerichtet, einige zelten auf dem Rasen. Der Hof ist staubig, wenn man barfuß darüber läuft, merkt man, wie warm er ist.

Eine Frau ist unter den Gästen aus Düsseldorf, die Melitta mit Vornamen heißt, wir Kinder lachen uns kaputt, die heißt ja wie das Filterpapier! Ich spiele auch Tennis, ich spiele im Doppel mit Florian, ein Freund meines Cousins aus Düsseldorf oder so (die genauen Beziehungen der Gäste untereinander und zu uns sind mir fast alle nicht klar). Ich spiele gar nicht schlecht, aber leider verlieren wir unser Spiel. Mein Vater gewinnt alle Spiele und schwärmt von Boris Becker. Wenn mein Vater nicht spielt, macht er an der Seite nach, wie Boris Becker ANSATZLOS – zupp!- einen Stop spielen kann. Er erzählt, dass er im Fernsehen gesehen hat, dass Boris Becker hundert Bälle zugespielt bekommt und jeden dieser hundert Bälle genau auf eine Zeitung zurückspielen kann, alle hundert. Und dass sie dann die Zeitung halbiert haben und Boris Becker wieder alle hundert Bälle auf die Zeitung gesetzt hat. Und so weiter. Wir treffen die Bälle oft nicht richtig und sie eiern in hohem Bogen über den hohen Maschenzaun in die Brombeerbüsche oder noch weiter bis in den Bach. Ständig sind Gesandschaften aus Kindern und Erwachsenen im Gebüsch und im Bach unterwegs, um die vielen Bälle wieder einzusammeln. Dabei essen wir Brombeeren (auch die roten sauren).

Boris Becker hat wie ich am 22. November Geburtstag. Boris Becker ist ein Phänomen, das ich mit offenem Mund bewundere. Meine Schwester (also die dritte von uns Kindern, die direkt über mir) ist bereits in einem Lästeralter und malt hämische Bilder, wie Boris Becker Pommes isst und ganz fett wird. Das hat mich damals gekränkt.

Zwischen dem alten Spieker (von dem ich immer noch nicht weiß, ob er zu dieser Feier nun schon abgebrannt war oder nicht) und dem großen Kuhstall stehen zwei riesige Kastanienbäume. Meine älteren Schwestern haben eine Hängematte dazwischen gehängt. Ich liege mit meiner Tante oder irgendwem anderen in dieser Hängematte und gucke in die Kastanienblätter, wir lachen über den Namen der Filterpapierfrau und die Filterpapierfrau lacht mit uns. Ich weiß nicht mehr, wie der Tag für mich zu Ende ging, vielleicht bin ich irgendwann irgendwo auf jemandes Schoß eingeschlafen. An dem riesigen Grill dreht sich das ganze Schwein, viele sind inzwischen aus dem Turnier ausgeschieden und trinken Bier und reden und machen so eine Sommerabendgeräuschkulisse. Die letzten Spiele auf dem Tennisplatz finden spät und bereits im Halbdunkel statt.

Aber Vergangenheit ist OVER !!! Nur hin und wieder nicht so ganz. Und Ihr könnt alle sagen was Ihr wollt, aber Boris Becker, den mag ich immer noch.

Die Arbeit rief, ich klappte den Rechner auf.

Von Maxim Loick

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